Dienstag, 13. August 2019

Pflegeinitiative (indirekter Gegenvorschlag)

Der Handlungsbedarf im Bereich der Pflege ist aus Sicht der Grünliberalen gegeben: Die steigende Lebenserwartung und der zunehmende Anteil älterer Menschen in der Bevölkerungen führen zu einem stetig wachsenden Pflegebedarf. So wird geschätzt, dass die Zahl der 80-jährigen und älteren Pflegedürftigen von 95'500 Personen im Jahr 2019 auf 145'600 im Jahr 2030 steigen wird. Das führt in den kommenden Jahren zu einem steigenden Personalbedarf (gemäss erläuterndem Bericht, Ziff. 2.2.1: bis 2025 zusätzlich 27'703 Personen gegenüber dem Jahr 2017). Der grösste Bedarf an zusätzlichen Personen besteht dabei in der Langzeitpflege. Die Zahl der Bildungsabschlüsse kann mit dieser Entwicklung nur ungenügend mithalten (Beipiel: der Erfüllungsgrad des jährlichen Nachwuchsbedarfs betrug 2017 bei der Diplompflege nur 44,4 Prozent; erläuternder Bericht, Ziff. 2.2.2).

Eine gute Pflege ist für die Grünliberalen zentral. Es geht um eine Tätigkeit mit hoher Verantwortung in einem sicherheitsrelevanten Bereich, auf welche alle Menschen im Laufe ihres Lebens irgendwann angewiesen sind. Es braucht daher eine umsichtige Planung. Aufgrund der genannten Zahlen ist absehbar, dass die Versorgungssicherheit nicht mehr gewährleistet ist. Ein Eingreifen des Bundes ist vor diesem Hintergrund gerechtfertigt.

 

Die Grünliberalen begrüssen daher, dass die Ausbildung im Bereich der Pflege für die Dauer von acht Jahren mit maximal 469 Mio. Franken unterstützt werden soll. Dabei geht es zum einen um Beiträge an die Kosten der praktischen Ausbildung von Pflegefachpersonen, welche den Akteuren (Spitäler, Pflegeheime etc.) entstehen, zum anderen um Ausbildungsbeiträge zur Sicherung des Lebensunterhalts während der Ausbildungszeit (Bildungsgang Pflege HF und Studiengang Pflege FH). Der vergleichsweise tiefe Ausbildungslohn (ca. Fr. 1'100 pro Monat ohne 13. Monatslohn; zum Vergleich: eine Fachfrau/-mann Gesundheit verdient nach Lehrabschluss durchschnittlich Fr. 4'790; erläuternder Bericht, Fn. 21) dürfte zur tiefen Zahl der Bildungsabschlüsse in diesem Bereich beitragen und Quereinsteigende abschrecken, die ein wichtiges Rekrutierungspotential darstellen.

 

Die Grünliberalen weisen darauf hin, dass die finanzielle Unterstützung durch den Bund eine Ausnahme darstellt, die durch die besonderen Umstände (stark steigender Personalbedarf, ungenügende Anzahlung Bildungsabschlüsse) gerechtigt ist. Als Grundsatz gilt weiterhin, dass die Ausbildung in diesem Bereich Sache der Kantone und der Branche ist. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Förderung der Ausbildung auf acht Jahre befristet wird. Ebenso ist zu begrüssen, dass der Bundesrat eine Evaluation der Auswirkungen des Gesetzes durchführen und dem Parlament spätestens sechs Jahre nach Inkrafftreten des Gesetzes Bericht erstatten soll; Entsprechendes gilt für die Änderungen des Krankenversicherungsgesetzes (KVG), die spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten evaluiert werden sollen.

 

Der Vorentwurf sieht vor, dass Pflegefachpersonen künftig bestimmte Pflegeleistungen ohne Anordnung oder Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) erbringen dürfen. Dies entspricht einer der Kernforderungen der Volksinitiative "Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)". Dadurch soll das eigenverantwortliche und kompetenzgemässe Handeln der Pflegefachpersonen gestärkt werden. Es dürfte ein wichtiges Element sein, um die Initiantinnen und Initianten zum Rückzug der Pflegeinitiative zu bewegen.

 

Die Grünliberalen sehen aber auch das Risiko der Mengenausweitung (vgl. die Kostenentwicklungen nach Einführung des KVG mit Einführung von selbständigen Leistungserbringergruppen), die eine Folge dieser Änderung sein könnte. Die Grünliberalen lehnen jede Mengenausweitung ab, die nicht aufgrund der Pflegebedürfnisse ausgewiesen ist, sondern nur aus der neuen Zuständigkeitsordnung (Leistungserbringer, die sich selbst Aufträge erteilen) resultiert. Im erläuternden Bericht werden die Mehrkosten für die OKP auf insgesamt 55-140 Millionen Franken pro Jahr geschätzt (30 Mio. im Bereich der Pflegeheime und 25-110 Mio. für die Spitex; siehe erläuternder Bericht, Ziff. 6.1). Ob sich diese Schätzung als zutreffend herausstellen wird, ist ungewiss. Mehrkosten wären in Zeiten steigender Gesundheitskosten eine Entwicklung in die falsche Richtung und das völlig falsche Signal. Es braucht daher Massnahmen, um dem entgegenzuwirken.

 

Um das zu gewährleisten, wäre eine Lockerung des Vertragszwanges ein erster Schritt, um den Wettbewerb um die besten und qualitativ hochwertigsten Leistungsanbieter zu fördern und um zu verhindern, dass ungerechtfertigte Mengenausweitungen erfolgen. Die Lockerung könnte sich dabei auf die Pflegeleistungen beschränken, die eine Pflegefachperson künftig ohne Anordnung oder Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin zulasten der OKP erbringen könnte. Der Bundesrat soll dazu die Einzelheiten regeln, bspw. einen Mindestprozentsatz an Vertragsabschlüssen (siehe dazu nachstehend bei Art. 38 Abs. 1bis VE-KVG).

 

Der Bundesrat ist zudem aufgefordert die Pflegeleistungen, die eine Pflegefachperson ohne Anordnung oder Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin zulasten der OKP erbringen können, klar und eindeutig zu regeln (vgl. Art 25a Abs. 3 VE-KVG). Die Krankenversicherungerer müssen  - wie auch sonst in der OKP - ihre Kontrollfunktion wahrnehmen und die Wirtschaftlichkeit der Leistungen prüfen. Zu begrüssen ist die im Vorentwurf enthaltende Bestimmung, wonach die Kantone bei einem starken Kostenanstieg die Zulassung neuer Leistungserbringer im Bereich der Pflege beschränken können (Art. 55b VE-KVG). Schliesslich ist auch die bereits erwähnte Evalution der Änderungen des KVG zu nennen, die spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten eine Analyse der Auswirkungen erlauben wird und damit die Gelegenheit bietet, bei Fehlentwicklungen Gegenmassnahmen zu ergreifen.

 

Unsicher ist, ob die Neuregelung zu einer Entlastung der Ärzteschaft führen wird (keine ärztliche Anordnung mehr erforderlich). Zwar dürfte die Anordnung heute in vielen Fällen eine blosse Formalie darstellen, sodass ihr Wegfall kostendämpfend wirken sollte. Andererseits wird aus Qualitätsgründen weiterhin eine Berichterstattung durch die Pflegefachperson an die Ärztin oder den Arzt und eine Koordinierung der pflegerischen mit den ärztlichen Leistungen notwendig sein, was einen Aufwand bedeutet.

 

Die Grünliberalen fordern die Initiantinnen und Initianten auf, die Volksinitiative "Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)" zurückzuziehen, wenn der indirekte Gegenvorschlag vom Parlament im Wesentlichen in der vorliegenden Form beschlossen werden sollte.

Abschliessend möchten die Grünliberalen die Bedeutung der Prävention betonen. Die beste Kostendämpfungsmassnahme ist ein gesunder  Lebenswandel, der zu einer möglichst späten bzw. geringen Pflegebedürftigkeit führt (oder im Idealfall diese sogar ganz entfallen lässt). Die Prävention soll als Grundsatz beim Individuum im Sinne der Eigenverantwortung ansetzen. Prävention kann aber auch Anreize und Massnahmen des Staates bedeuten, sofern eine Investition in Präventionsmassnahmem dabei helfen kann, spätere - höhere - Folgekosten zu vermeiden. Das ist freilich nicht mit paternalistischen Einmischungen des Staates in die individuelle Lebensgestaltung zu verwechseln, welche die Grünliberalen ablehnen.